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Hitting close to home: Wenn Spiele an die Substanz gehen

Bildmaterial: Firewatch (Campo Santo), Life is Strange (Dontnod / Square Enix), Stardew Valley (Concerned Ape / Chucklefish), Night in the Woods (Infinite Fall, Secret Lab / Finji)

Videospiele entführen uns gerne in atemberaubende Fantasy-Welten, auf grauenhafte Kriegsschauplätze, in sagenhafte Zukunftsvisionen und manchmal auch nur in einen stinknormalen Vorort. In Videospielen rettet man die Welt, besiegt unbeschreibliche Bestien, birgt längst verlorene Kostbarkeiten oder schmeißt das College hin und zieht zurück zu den Eltern.

Manchmal spielt sich das Medium im (fast) ganz normalen Alltag ab und behandelt Themen, die dich und mich auch betreffen könnten, vielleicht sogar schon haben. Ja, auch in einem Final Fantasy geht es um Trauer und Verlust und auch in einem Mass Effect lernt man von wahrer Freundschaft und den Konsequenzen des eigenen Handelns. An dieser Stelle sollen aber einmal Spiele in den Vordergrund gerückt werden, die im kleineren Maßstab angelegt sind und die sich mit ihren Charakteren und Themen irgendwie echt anfühlen.

Gerade weil die Personen und Themen in einem alltäglichen Kontext gezeigt werden, lösen sie eher einen „Hitting close to home“-Effekt aus. Leider gibt es keine adäquate Übersetzung für dieses Idiom. Umschreiben könnte man es vermutlich damit, dass einem etwas nah geht, weil man genau weiß, wie es sich anfühlen muss; vielleicht war man sogar in genau der gleichen Situation. Es trifft irgendwie einen wunden Punkt.

Egal, wie weit man wegläuft,…

Hitting close to homeFirewatch ist so ein Beispiel. Ihr übernehmt die Rolle des sympathischen, absolut durchschnittlichen, Henry und werdet Teil der Brandwache in Wyoming. Hier in der Pampa, fernab der Zivilisation, schaut er den Sommer über nach dem Rechten und hält Ausschau nach Waldbränden. Man sagt, wer diesen Job annimmt, liefe vor etwas davon. Henry ist hier leider keine Ausnahme.

Er führt jahrelang eine glückliche Beziehung mit Hund und Haus und allem drum und dran. Kinder gab es noch nicht, aber die „kleinen Idioten“ waren schon fest in Planung. Doch dann muss Partnerin Julia aus beruflichen Gründen 2000 Meilen weit weg ziehen. Das ist hart, aber eine starke Beziehung schafft das, oder? Aber auf das, was darauf folgte, konnte das Pärchen niemand vorbereiten.

Julia entwickelt eine frühe Demenz mit Anfang 40. Die Folgen dieser Krankheit führen dazu, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben kann, auch ihren Alltag kann sie nicht mehr alleine bewältigen. An manchen Tagen ist sie für Henry eine Fremde. Julia zieht zurück nach Australien, wo sie von ihrer Familie betreut und gepflegt wird. Henry ist mit dieser Situation überfordert, so war das doch alles nicht geplant – dann packt er seine Sachen.

…das Leben holt einen am Ende doch ein.

Hoch oben auf seinem Ausguck ist Henry dann ganz weit weg von all diesen Problemen, von allem, was ihn belastet. Den einzigen menschlichen Kontakt, den er jetzt hat, ist seine Vorgesetzte Delilah. Genau wie er, ist sie ein Stück weit auf der Flucht vor ihrem Leben außerhalb der Wildnis.

Firewatch erzählt eine Geschichte über das Weglaufen und Vergessen wollen. Manchmal ist man einfach überfordert und manchmal will man alles hinter sich lassen. Das Spiel schenkt einem auch keine befriedigende Resolution oder ein Happy End. Henry schöpft nicht plötzlich die Kraft, optimistisch nach vorn zu blicken, es geschieht kein plötzliches Wunder. Nach dem Durchspielen wird sich bei dem ein oder anderen vielleicht sogar ein nagendes Gefühl der Leere einstellen.

Teenager sein ist schwer,…

Abgesehen von den übernatürlichen Elementen und der teilweise vielleicht etwas merkwürdigen Darstellung von Teenagern, fasst Life is Strange viele Themen an, die für einige Menschen zur Lebenswirklichkeit gehören. Es beginnt schon dabei, eine Freundschaft einschlafen zu lassen, weil man sich nicht mehr sieht. Die Telefonate werden seltener. Die Nachrichten werden kürzer. Aus den Augen, aus dem Sinn.

So erging es Chloe mit Max, denn als Letztere mit ihren Eltern wegzog, vernachlässigte sie ihre ehemals beste Freundin mehr und mehr, bis der Kontakt abbrach. Dabei hätte Chloe zu dieser Zeit nichts dringender gebraucht als eine Freundin, denn sie hatte erst kürzlich ihren Vater verloren.

Als ihre Mutter dann noch einen neuen Freund mit nach Hause bringt, ist das für die Jugendliche der ultimative Verrat. Chloe ist wütend auf die ganze Welt. Mehr und mehr gerät sie auf die schiefe Bahn: Ihr Verhalten wird immer risikoreicher, sie fliegt von der Schule, nimmt Drogen.

…erwachsen sein aber auch.

Für ihre Mutter ist die gesamte Situation genauso alptraumhaft: Sie hat ihren geliebten Ehemann verloren, ist in finanzielle Not geraten und muss zusehen, wie ihre Tochter ihr mehr und mehr entgleitet. Mit einem neuen Freund holte sie sich eine Stütze in ihr Leben, nur um von Chloe deshalb laufend verurteilt zu werden. Manchmal vergessen Teenager – oder eigentlich jeder von uns mal – über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und uns in die Lage von jemand anderem zu versetzen.

Als dann Rachel in Chloes Leben tritt, findet sie plötzlich eine Verbündete. Endlich jemand, der sie und das Chaos in ihr versteht! Rachel wird von ihr verehrt und idealisiert. Das macht Chloe blind für Rachels Fehler und Manipulationen. Ohne hier die Freundschaft der beiden kleinreden zu wollen: Menschen sind nicht perfekt und das ist ok so. Man sollte sie nicht auf ein unerreichbares Podest heben. Das ist nicht nur ein sicherer Weg, um enttäuscht zu werden und diese Person unter Druck zu setzen, man nimmt unter Umständen Dinge von dieser „Lichtgestalt“ hin, die schlichtweg nicht in Ordnung sind.

Auch sonst finden sich noch einige andere Beispiele in Life is Strange und dem Prequel Before the Storm, die einem so auch im wirklichen Leben begegnen. Es geht auch um Mobbing‚ „Slut Shaming“, Leistungsdruck und ungewollte Schwangerschaft, nur um ein paar Beispiele zu nennen. Die Entwickler nehmen die Probleme von jungen (und auch älteren) Menschen ernst, ohne sie als Teenage-Angst oder pubertäre Auswüchse abzutun.

Es ist eine schöne, heile Welt,…

Sogar in idyllischen Spielen wie Stardew Valley wird nicht vor den ernsten Seiten des Lebens zurückgescheut. So beeinflussen Shanes Probleme nicht nur sein Leben, sondern auch das von Marny und Jas – seiner Tante und seines Patenkindes. Neben Depressionen und suizidalen Tendenzen hat der junge Mann ein starkes Alkoholproblem. Er scheint sich aufgegeben zu haben, lässt sich gehen und seine Familie kann nur hilflos zusehen, wie er sich mehr und mehr kaputt macht.

Mit Pam und Penny wird sich an das Thema Armut und der damit verbundenen Scham herangewagt: Sie lebt mit ihrer Tochter Penny in einem Wohnwagen am Rande der Stadt und hat, wie Shane, ein Alkoholproblem. Seitdem Pam ihren Job verloren hat, kommt sie einfach nicht mehr auf die Beine. Vor allem Penny sind ihre Wohnverhältnisse unangenehm.

…wenn man nicht zu genau hinsieht.

Sogar der Krieg, welcher in der Welt von Stardew Valley tobt, wird behandelt und zwar in Form von Kents Geschichte. Er kehrt nach Hause zurück und leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, da er Unaussprechliches erlebt und gesehen hat. Seine lange Abwesenheit und Veränderungen an seinem Wesen sind nicht spurlos an seiner Familie vorbeigegangen: Frau und Kinder haben sich entfremdet; Gattin Jodi gesteht sogar, dem Singleleben hinterherzutrauern.

Dies sind nur ein paar Beispiele, die man in dieser, oberflächlich betrachtet, friedlichen Bauernhof-Simulation finden kann. Wer sich mit den Dorfbewohnern auseinandersetzt, wird noch viel mehr tragische Hintergrundgeschichten freilegen – hier hat nahezu jeder ein Päckchen zu tragen, auch wenn zunächst alles nett und harmlos wirkt.

Tiere sind auch nur Menschen,…

In Night in the Woods sind alle Personen anthropomorphe Tiere und trotzdem könnten die Probleme, Ängste und Sorgen nicht menschlicher sein. Mae, die Hauptfigur des Spiels, schmeißt das College und zieht zurück zu ihren Eltern. Wenn es um die Gründe geht, blockt sie ab, stromert lieber den ganzen Tag in Possum Springs umher und trifft sich mit den alten Freunden.

Sie ist frech, ein bisschen verrückt und wirkt eigentlich ziemlich unbeschwert. Das Spiel nimmt sich lange und behutsam Zeit dafür, um zu zeigen, dass die 20-Jährige leidet, auch wenn sie es kaum zeigt. Night in the Woods wagt sich hier ins Territorium psychischer Störungen vor und impliziert, dass Mae in der Vergangenheit vielleicht nicht die Behandlung bzw. Therapie erhalten hat, die sie gebraucht hätte. Vermutlich blieb ihre Krankheit, die im Spiel nicht spezifiziert wird, unerkannt oder wurde nicht korrekt diagnostiziert.

Im Verlauf des Spiels lernt man aber auch zahlreiche andere Charaktere näher kennen. Kindheitsfreundin Bea beispielsweise kämpft mit dem Tod eines Elternteils und der Bürde, den Familienladen am Laufen zu halten. Ihr Vater ist nicht die Stütze, die sie eigentlich jetzt braucht; vielmehr lädt er seinen emotionalen Ballast auf ihr ab.

Gleichzeitig kann sie aufgrund der Verantwortung und finanziellen Situation nicht aufs College gehen. Sogar sexueller Missbrauch an ihrem Arbeitsplatz wurde angedeutet. Sie hält ihr Leben für eine Sackgasse, alle Züge sind abgefahren. Auf Partys gibt sie sich als Student aus, einfach nur um für einen Abend so zu tun, als wäre sie, wer sie sein möchte und nicht wer sie wirklich ist.

…mit ganz alltäglichen Problemen.

Das sind nur ein paar ausgewählte Beispiele, denn bei Night in the Woods haben selbst eher unwichtige Hintergrundfiguren oft ihre ganz eigenen Probleme. Ob die Bekannte, die keinen Job findet und ihre Gefühle in Gedichte steckt, der Typ, der den Umzug seines vermutlich einzigen Freundes betrauert, oder der Kumpel, der körperliche Misshandlung seitens der Eltern erfahren musste: Der Titel steckt voller Menschlichkeit und ist manchmal so echt, dass es weh tut.

Die Liste an Videospielen mit realistischer Not und Momenten, die sich irgendwie echt anfühlen, ließe sich fortsetzen. Es ist ein Element, das dieses Medium in vielerlei Hinsicht bereichert und ein Spielgefühl bieten kann, das über einfache Unterhaltung und Spaß hinausgeht. Ein Erlebnis, das man so oder so ähnlich durchlebt hat, schafft ein starkes Gefühl der Verbindung und Inklusion ins Spielgeschehen. Für manche kann diese Art Spiele vielleicht sogar tröstlich, fast therapeutisch sein.

Natürlich ist hier aber auch große Vorsicht geboten: Wenn man sich vornimmt, Probleme darzustellen, die in die Kategorie „Hitting close to home“ fallen, ist Feingefühl und Respekt gefragt. Abhängig davon, wie genau man das Thema darstellen möchte, sollte auch ein gewisses Maß an Recherche einfließen.

Immer wieder werden diese realen Momente im Kontext des Spiels „Plot Devices“ sein, also Erzähltechniken, die die Story vorantreiben sollen. Beispielsweise geben sie einem Charakter seine Motivationen, um etwas Bestimmtes zu tun. Daran ist nichts falsch. Es geht einfach darum sensibel zu sein, von Schwarz-Weiß-Malerei abzusehen und Klischees zu vermeiden.

So dankbar und effektiv starke, scheinbar echte emotionale Geschichten dazu dienen können, die Handlung nach vorn zu bringen, so einfach ist es aber auch, in eine Falle zu tappen und sie plump zu instrumentalisieren. Zum Beispiel, um einen eindimensionalen Bösewicht zu zeichnen, eine Figur auf ein schlimmes Erlebnis zu reduzieren oder einen uninspirierten Rache-Plot zu formen.

2 Kommentare

  1. Interessanterweise finde ich diese ernsthaften Thematiken in Spielen selten mitreißend. Auch Titel wie Senua's Sacrifice und Co. können mich einfach emotional nicht so mitnehmen. Ich bin halt immer noch mit spielen nebenher beschäftigt davon ab, bin ich zu sehr von diesen Problemen persönlich distanziert bzw. andersrum, baue bei gewissen Dingen auch eine persönliche Blockade auf, wenn ich sie aus dem Familienkreis kenne und selbst betroffen bin.

    Wirklich mitgenommen, weil ich zwei Jahre in ähnlicher Situation war und auch diesen Job gemacht habe hat mich z.B. der Film Nightcrawler, den konnte ich nicht zu Ende schauen, weil ich einfach die ganze Zeit an besagte zwei Jahre erinnert wurde und die lieber hinter mir lassen möchte.

    Ich finde es gut, wenn Spiele ernste Themen ansprechen, denke aber, dass sie da eine Tiefe vortäuschen, die sie nicht erfüllen können, weil die Story letztlich das nicht hergibt. Und ich denke, dass gerade Firewatch einen ziemlich schlechten Beigeschmack hinterlässt, da am Ende nichts gelöst, nichts erklärt ist, was den Trip letztlich komplett dem Sinn entzieht.

  2. Spiele die an die Substanz gehen?
    Silent Hill 2. Der Twist hat mich damals dermaßen aus den Socken gehauen, sodass ich erst mal die Konsole ausmachen und eine Zigarette rauchen musste. Mir ging es richtig schlecht und ich konnte erst die folgende Nacht das Spiel beenden.
    Sowas hatte ich vorher im Medium Videospiel nicht erlebt; selten zuvor gar in Filmen.
    Bei erneuten Spielen wurde mir erst klar, dass die ganze Spielwelt samt Soundtrack und Atmosphäre um diesen Twist herum aufgebaut war.
    Hut ab vor dem ganzen Team, welches eines der besten Videospielerlebnisse aller Zeiten aus dem Boden stampfte.

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