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Retro-Flashback: Geschichtsstunde #12 – Mother

Es geht endlich weiter! Vermutlich dachten einige von euch verständlicherweise, dass hier auf ewig Stillstand herrscht – das ist zum Glück nicht der Fall. Als Entschädigung für die lange Wartezeit habe ich zwei positive Nachrichten: Es wird bei den restlichen Artikeln keine längere Pause mehr geben, weil ich alle Spiele nun durchgespielt habe. Und nach etlichen Jahren gab es tatsächlich mal wieder ein Lebenszeichen von der Fanübersetzung zu Megami Tensei: Digital Devil Story – die soll im September kommen, und ich werde mich bemühen, also auch dazu ein Retro-Flashback zu gegebener Zeit nachzureichen.

Heute werfen wir einen Blick auf ein sehr ungewöhnliches und einzigartiges Spiel. Schon der Titel, Mother, ist weit weg vom Genrestandard, weshalb er vermutlich auch nicht so in den Westen übernommen wurde. Mother ist der Auftakt zu einer sehr speziellen Serie, die sich mehr als alles andere durch ihr verrücktes Setting und den quirligen Humor definiert. Wie genau das funktioniert, schauen wir uns nun an.

 

Hintergründe & Entwicklung

Der JRPG-Markt wurde dominiert von Titeln, die Settings auskundschafteten, die entweder durch Fantasy oder durch Science Fiction (oder beide) geprägt waren. Mother hingegen siedelt sich in unserer Welt an, genauer gesagt: In einer fiktiven Vorstadt in den USA.

Für das Szenario und die Geschichte ist Allround-Talent Shigesato Itoi verantwortlich, der auch die Rolle des Directors, Writers und Designers übernahm. Itoi ist in Japan eine sehr bekannte Persönlichkeit – als Spieledesigner, als Kurzgeschichtenautor, als Werbetexter, als Songtextschreiber, als Synchronsprecher und als Fernsehpersönlichkeit. Bereits seit 1998 führt er ein Internet-Blog, das noch heute täglich aktualisiert wird. Den Titel „Mother“ wählte Itoi, weil er ungewöhnlich für ein Videospiel war – inspiriert wurde er von John Lennons gleichnamigem Song. Laut Angabe von Itoi wurde das Balancing des letzten Teils des Spiels vor dem Erscheinen nicht noch einmal geprüft.

Shigeru Miyamoto fungierte als Produzent für Mother.

Ursprünglich sollte Mother auch in Nordamerika erscheinen. Die Lokalisierung war bereits komplett, allerdings fiel Mother dem gleichen Umstand zum Opfer wie viele weitere NES-Spiele dieser Zeit: Der SNES war bereits auf dem Vormarsch und viele Veröffentlichungen wurden gestrichen. Trotzdem erblickte die lokalisierte Fassung von Mother das Licht der Welt: 1998 fand und kaufte die Fanübersetzer-Gruppe Demoforce ein Modul mit dem Prototypen des übersetzten Spiels im Internet und brachte die ROM zu dem Spiel unter dem Titel „Earthbound Zero“ in den Umlauf.

Das Spiel

 

Bereits das Intro des Spiels lässt erkennen, dass Mother ganz anders ist als die bis dahin erschienenen typischen RPGs. Neben dem Namen der Protagonisten darf man auch den Namen seiner Lieblingsspeise eingeben, die anschließend im Spiel des Öfteren erwähnt wird – bei mir war es „Wasabi“.

Die Geschichte fängt sehr simpel an: Der Protagonist – nennen wir ihn Ninten – wohnt zusammen mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester in einem kleinen Haus. Ninten besitzt psychische Kräfte. Zu Beginn des Spiels erwachen plötzlich die Gegenstände in seinem Haus zum Leben und Ninten muss sich Puppen und Tischlampen entgegenstellen. Kurz darauf meldet sich per Telefon sein Vater und schickt ihn auf ein Abenteuer – in etwa mit dem Wortlaut: „Du bist unsere einzige Hoffnung, suche nach den Tagebüchern deines Urgroßvaters. Ich kann dir auch nicht weiterhelfen, aber du musst nun in der Welt nach Antworten suchen. Bis bald!“ Telefone stellen übrigens auch die Speicherpunkte im Spiel dar und durch sie kann Ninten immer wieder mit seinem verschollenen Vater kommunizieren.

Und so beginnt die Reise. Schon am Anfang wird Ninten von streunenden Hunden, Zombies und Hippies angegriffen.

Spielerisch fühlt sich Mother sehr nach Dragon Quest an. Die Mechaniken der Kämpfe und sogar das Interface sind ausgesprochen ähnlich, ebenso wie die menübasierten Aktionen außerhalb der Kämpfe. Die Kämpfe werden allerdings dadurch etwas ansprechender, dass sie oft lustig inszeniert sind. Bei der Analyse der Gegner bekommt man humorvolle Texte zu lesen und Gegner wie die Hippies beherrschen Aktionen, die ebenfalls sehr amüsant sind. (Beispiel: The Hippie said „Your mother is calling for you!“ and Ninten believed it. Ninten’s FIGHT decreased by 5.)

Der Unterhaltungswert durch solche Texte lässt natürlich nach, wenn man sie wiederholt liest. Aus diesem Grund sind die Kämpfe in Mother trotz der netten Einlagen ziemlich repetitiv und langsam. Die Auswahl der Gegner bleibt aber bis zum Ende hin einfallsreich: Von Zoo-Tieren über LKWs bis hin zu Kriminellen von der Most-Wanted-Liste des FBI muss sich der Spieler vielen realen und fiktiven Gefahren stellen. Diesen Humor spürt man aus allen Poren des Spiels. So kämpft man nicht mit Schwertern, sondern mit Baseballschlägern, beschichteten Bratpfannen und ernährt sich durch Beerentofu, Hamburger und Sportdrinks.

Ebenfalls besonders an Mother: Alle Teile der Hauptspielwelt sind nahtlos miteinander verbunden – quasi wie eine Weltkarte, nur dass alle Städte und diverse andere Orte direkt begehbar sind. Ein Bildschirmwechsel findet nur beim Betreten eines Hauses oder Dungeons statt. Die Welt wirkt riesig und kann später auch per Zug durchreist werden. Viel Freiheit hat man zwar, aber die Handlung ist halbwegs linear, sodass man nicht immer entscheiden kann, wo man als nächstes weitermachen will.

 

Während anfangs alles recht überschaubar ist, werden einige der Dungeons später riesig und verworren. Schatztruhen findet man überall, aber das Inventar ist recht begrenzt, sodass man klug haushalten muss. Ninten kämpft anfangs allein, aber später wird er von zwei anderen Kindern begleitet – dem Nerd und Außenseiter Lloyd, den man in einer Mülltonne auf dem Schuldach findet, und einem Mädchen namens Ana mit Seher-Kräften.

Charakterentwicklung gibt es erwartungsgemäß nicht – das ist aber auch nicht schlimm, denn die wahre Stärke des Spiels liegt in den schrägen Mono- und Dialogen. Im Laufe der Handlung muss Ninten acht Melodien finden, die er benötigt, um den letzten Boss zu besiegen. Der Fadenzieher hinter den ganzen unerklärlichen Ereignissen und wildgewordenen Tieren und Menschen entpuppt sich letztendlich als Alien. Im letzten Dungeon findet man sogar die vermissten Personen wieder, die dort in Glasröhren eingesperrt wurden. Der letzte Kampf selbst ist stark dialoggetrieben, und nach dem Bezwingen des Oberaliens folgt ein sehr charmant-kitschiges Happy End, das die kleine Geschichte schön abrundet.

Mein Spielerlebnis

Der Humor von Mother ist natürlich sehr geschmacksabhängig. Für die Serie hat sich im Laufe der Zeit eine gewisse Fanbasis entwickelt, die von der erfrischenden Andersartigkeit von Mother sehr angetan ist – andere wiederum können mit dem Stil des Spiels wenig anfangen. Ich selbst fühlte mich durchaus unterhalten von den unkonventionellen Ideen und Dialogen voller Witz und kulturellen Referenzen. Auch das Parodieren bekannter RPG-Klischees konnte mich überzeugen. Aus kreativer Sicht ist Mother besonders von der Handhabung der Texte sicherlich eines der interessantesten Spiele seiner Zeit.

So sehr ich diese Dinge auch zu schätzen weiß: Das Gameplay kann ich leider trotzdem nicht ignorieren, und das ist bei Mother besonders problematisch. Es fühlt sich sehr viel archaischer an als die spielerisch besseren NES-Spiele und wird schon recht früh sehr zäh. Spätestens wenn die Dungeons länger werden, werden die Kämpfe zu einer schwer zu ertragenden Tortur. Ein Heilmittel dagegen gibt es leider nicht – höchstens den Easy Ring, den es in der englischen GBA-Fanübersetzung des Spiels gibt und der den Schwierigkeitsgrad sowie die Zahl der Zufallskämpfe reduziert.

Mother ist einfach kein Spiel, das man für das Gameplay spielt. Umso frustrierender ist es, wenn man so viel Zeit mit repetitiven Kämpfen verbringen muss. Das zieht das ansonsten interessante Spielerlebnis enorm herunter.

 

Fazit: Mother ist in erzählerischer Hinsicht unglaublich kreativ und trieft nur so vor neuartigen Ideen. Der verrückte Humor und die klugen Dialoge sind sehr unterhaltsam und machen sich nicht selten auch über das RPG-Genre lustig. Spielerisch ist Mother allerdings das Gegenteil von Innovation: Die Kämpfe sind zahlreich, zäh und langweilig, und Dungeons werden im Spielverlauf immer größer. Das macht Mother letztlich zu einem nervenaufreibenden Spielerlebnis – ob der Rest des Spiels für das kaugummiartige Gameplay entschädigen kann, muss jeder für sich entscheiden. Fest steht: Ohne den Easy Ring sollte man Mother heute definitiv nicht spielen. Ich persönlich rate lieber zu dem SNES-Nachfolger „Earthbound“, den es auch für Nintendos Virtual Console gibt.

Vermächtnis

Es ist schwierig, rückblickend die Wirkung von Mother auf andere RPGs und Spiele im Allgemeinen abzuschätzen, denn noch heute sind die Spiele in dem, was sie tun und wie sie es tun einzigartig. Das RPG-Genre orientierte sich auch nach Mother eher an bewährten Standards oder erschuf neue. realistische Settings sieht man damals wie heute eher selten.

Mit 400.000 verkauften Einheiten war Mother in Japan erfolgreich und legte den Grundstein für eine kleine Serie. Viele Elemente des ersten Teils – darunter die acht Melodien – finden sich auch in einem oder beiden Nachfolgern wieder. In Japan erhielt Mother ein Remake für GameBoy Advance, zu dem es auch eine Fanübersetzung gibt.

 

Trivia
  • in die englische GBA-Version des Spiels wurde (inoffiziell) ein Easy Ring eingefügt, der das Spielerlebnis deutlich angenehmer macht
  • eine Musik-CD, die 1989 zum Spiel veröffentlicht wurde, enthält elf vokale Arrangements, darunter unter anderem welche der im Spiel vorkommenden acht Melodien
  • für die übersetzte Fassung wurden Blut bei den Gegnern zensiert und einige Namen und Grafiken geändert
  • das Geld, das die Fanübersetzer-Gruppe Demiforce für das Prototyp-Modul der englischen Version bezahlte, kam durch Sammelaktion zusammen
  • im Japanischen tragen die Städte Namen englischer Feiertage wie Mother’s Day, Halloween, Easter und Valentine
  • ursprünglich lehnte Shigeru Miyamoto den Vorschlag Itois für das Spiel aus kommerziellen Gründen ab – dies führte sogar dazu, dass Itoi nach eigener Aussage auf der Rückfahrt im Zug Tränen vergoss; später rief Miyamoto Itoi aber zurück und erlaubte ihm die Entwicklung des Spiels
Ausblick

Über Dragon Quest haben wir schon viel geredet, und einmal werden wir es noch tun. Dragon Quest IV ist das letzte Spiel der Serie für den NES, und insofern besonders, dass man die Geschichte aus vielen Perspektiven erlebt, die sich im finalen Kapitel zu einer einzigen vereinen. Dieses Spiel, das in vielerlei Hinsicht das bis dahin beste Dragon Quest ist, werden wir uns das nächste Mal ansehen.